„Wieso die Ärztevereinigung AMMD den Arbeitskampf ausgerufen hat, versteht in der breiten Öffentlichkeit niemand. Die Ärzte fürchten sich scheinbar vor einer Verstaatlichung der Medizin. In Wahrheit geht es ihnen um die Verteidigung ihrer Pfründe – auch wenn sie das nie offen zugeben würden.“, so Joëlle Merges in einem Kommentar im LW vom 23.10.2010.
In der Brockhaus Enzyklopädie bezeichnet „Pfründe“ ein „kirchliches Benefizium, nach früherem katholischen Kirchenrecht ein Kirchenamt, das mit einer Vermögensaustattung (Land, Geldvermögen u.a.) verbunden war, deren Erträge zum Unterhalt des Amtsinhabers (Benefiziat) bestimmt waren.“
Das heisst also im Klartext, dass es den Ärzten in ihrer Protestbewegung ausschliesslich um die Wahrung ihrer finanziellen Interessen gelegen sei. Das finde ich, ist eine ungeheuerliche Unterstellung, welche es sehr unwahrscheinlich scheinen lässt, dass die Autorin dieser Zeilen sich die Mühe gemacht hat, die von der AMMD im Detail kommentierte und mit ausführlichen Verbesserungsvorschlägen versehene Version des Gesetzesentwurfs „à tête reposée“ durchzulesen.
Sie hätte dann sicherlich auch besser verstanden, wieso auch die Allgemeinmedizinerin Dr.Martine Mergen, gesundheitspolitische Sprecherin der CSV, der sie sicherlich nicht schnöde finanzielle Eigeninteressen unterstellen wollte, so wie die Mehrheit der Luxemburger Ärzteschaft, den Aufruf zum Arbeitskampf befürwortet hat.
Die gesundheitspolitische Sprecherin der CSV hat nämlich nicht nur „Verständnis“ für die Protestaktionen der Ärzte, wie in einem Bericht von „jm“ im LW vom 23.10.2010 über die Arbeit des Gesundheitsausschusses des Parlaments angeführt wird. Sie hat sogar als damals persönlich anwesendes Mitglied der AMMD bei allen Anträgen der ausserordentlichen Generalversammlung der AMMD vom 22.9.2010, und ich erwähne hier unter anderen „que l’avant-projet de loi, présenté par le Ministre de la Santé et de la Sécurité Sociale en date du 27 juillet 2010 est inacceptable et demande le retrait du projet sous sa forme actuelle“ und „de déclarer avec force qu’en cas d’une fin de non-recevoir de la part du Ministre de la Santé et de la Sécurité Sociale, le conseil d’administration de l’AMMD est chargé d’entamer l’action syndicale” so wie die anderen 498 der 500 stimmberechtigten anwesenden Ärzte mit “Ja” gestimmt, nur ein Kollege hatte sich bekanntlich bei der offenen und nicht geheimen Abstimmung der Stimme enthalten.
Die Behauptung von “jm“, „Zwar fordert sie (Dr Mergen) den Minister nicht auf, seine Reform zurückzuziehen. Jedoch müssten die vielen Einzelheiten und Unklarheiten, die im Gesetzentwurf enthalten seien, schnellsten geklärt werden.“ entspricht also in seinem ersten Satz ganz und gar nicht den (leicht überprüfbaren) Tatsachen, d.h einer über Parteigrenzen hinweg geeinten Ärzteschaft in der sehr differenzierten ablehnenden Beurteilung des Gesetzentwurfes zur Gesundheitsreform vor allem aus gesundheitspolitischen Motiven.
In einem vor kurzem in allen Tageszeitungen veröffentlichten Artikel wiederholt Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo seine Argumente für die jetzige Fassung des Gesetzesentwurfs zur Gesundheitsreform und er scheut sich leider nicht, hierbei auch sehr schlampig mit der Wahrheit umzugehen. So unterstellt er etwa im Kapitel „Kompetenzbündelung, Spezialisierung und Transparenz“ – nach der Aufzählung einer scheinbar abgeschlossenen Liste von diesbezüglichen Positiv-Beispielen wie Herzchirurgiezentrum, Rehazentrum, Radiotherapiezentrum- im Hinblick auf die Behandlung des Hirnschlaganfalls fehlende Kompetenzbündelung und Spezialisierung in spezialisierten Abteilungen, die den höchsten internationalen Standards entsprechen. Er schliesst seine Aufzählung ab mit der pauschalisierenden Aussage „Genauso können wir es nicht verantworten, dass ein Hirnschlag in der falschen Klinik oder in der falschen Abteilung landet, und der Patient deshalb schwerwiegende bleibende Schäden oder sogar sein Leben riskiert. Deshalb: freie Arztwahl ja!Therapiefreiheit ja! Aber bitte mit der nötigen Qualitätsgarantie für den Patienten.“
Diese Aussagen sind eines Gesundheitsministers von Luxemburg im Oktober 2010 einfach unwürdig, denn Herr Di Bartolomeo weiss sehr wohl, dass die Schlaganfallversorgung in Luxemburg mit 3 nach internationalen Standards funktionierenden „Stroke Units“ in der Mehrzahl der „hôpitaux généraux“ vorbildlich abläuft und er selbst hat mehrfach Einblick nehmen können in die sehr guten Ergebnisse des von der Universität Münster supervidierten diesbezüglichen internationalen Qualitätsmanagements, dem sich auch die Ärzte dieser Stroke Units seit Jahren in Eigeninitiative und freiwillig stellen.
Ob es in diesem Zusammenhang wohl ein Zufall ist, dass alle in seiner Positivliste angeführten Beispiele „établissements mono-disciplinaires nationaux“ im Sinne eines „établissement hospitalier spécialisé“ sind? Sollte Qualitätsmedizin auf höchstem Niveau unabhängig von den jeweiligen krankheitsspezifischen Besonderheiten und unabhängig von geographischen Bedingungen in Zukunft nur mehr in einer einzigen nationalen Struktur gewünscht sein und somit ermöglicht werden? „Time is brain“ und so verbietet es sich daher von selbst, in Bezug auf eine optimale Schlaganfallversorgung
a l l e r in Luxemburg lebenden Menschen von e i n e r einzigen nationalen „Stroke Unit“ zu träumen. Eine solche Vorstellung lässt sich dann allerdings nicht mehr mit medizinischen, sondern nur mit ideologischen Argumenten untermauern. Das wäre eine richtige zweitklassige und Zweiklassen-Medizin für viele Menschen in unserem Land, und hiermit meine ich nicht nur die Bevölkerung des Nordens von Luxemburg.
Veröffentlichte und politische Meinungen gehen in diesen entscheidenden Problempunkten der Gesundheitsreform erstaunlicherweise ganz offensichtlich und nahezu unwidersprochen davon aus, dass die Kernkompetenz des medizinischen „gesunden Menschenverstandes“ nicht mehr den Mitgliedern der Ärzteschaft zugesprochen wird. Medizin-fremde Ideologen beherrschen leider auch hier oft das Bild.
Und deshalb zuletzt ein ganz Anderes und doch nicht ohne Zusammenhang: eine Gemeinsamkeit – zumindest was irrationale Komponenten in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung anbelangt- besteht auch zu dem in letzter Zeit viel und vor allem von Nicht-Ärzten in der Öffentlichkeit diskutierten Gebrauch von Cannabis und Cannabis-Bestandteilen in der Medizin. Die Forschungsergebnisse hierzu sind oft vielversprechend, wenn sie denn –um wieder beim gleichen Thema anzukommen- in den Händen oder unter Supervision von Spezialisten und im Rahmen von multidisziplinären Kompetenzzentren Anwendung finden.
Ich arbeite nun in Luxemburg seit 16 Jahren als Facharzt für Neurologie mit zusätzlichem psychotherapeutischem Abschlussdiplom in einem interdisziplinär vernetzten Krankenhausbereich, ich bin Mitglied des multidisziplinären „groupe douleur chronique“ des Centre Hospitalier du Nord im Hôpital Saint Louis und des multidisziplinären „Cercle Luxembourgeois d’Algologie“ und ich absolviere derzeit eine Zusatzausbildung in Palliativmedizin, welche definitionsgemäss und von ihrem Selbstverständnis her auf interdisziplinärer Zusammenarbeit beruht.
In allen diesen Bereichen stellen wir uns als Fachärzte gegenseitig täglich viele Fragen. Wir stellen uns auch selbst täglich vielen Fragen und nicht zuletzt stellen wir uns auch selbst oft in Frage. Fazit: Die Diagnose einer „Therapieresistenz“ wird zulässig nie in einer Einzelpraxis gestellt werden können; die Behandlung mit Cannabis-oder Cannabis-Bestandteilen kann – auch wenn es rechtens möglich wäre- zulässig niemals in einer Einzelpraxis initialisiert werden.
Cannabis oder Cannabis-Bestandteile sind bisher nur als Augmentationsstrategie bei Versagen von klassischen Verfahrensweisen im Sinne einer Stufentherapie bei verschiedenen ausgewählten Krankeitsbildern und nicht als First-Line-Produkte wissenschaftlich belegt, und dies kann sich auch erst nach Absolvierung der auch für alle anderen Heilmittel vorgeschriebenen Studien ändern.
Vielen der in einer Einzelpraxis diagnostizierten „therapieresistenten“ Fälle, welche angeblich nur mit Cannabisprodukten eine Linderung ihrer Beschwerden erreichen können, kann in einem multidisziplinären Kompetenzzentrum mit klassischen und anerkannten Methoden sowohl ambulant als auch stationär geholfen werden. In keinem dieser Kompetenzzentren aber würde der Einsatz von Cannabis oder Cannabisprodukten bei wirklich sonst therapieresistenten Fällen aus grundsätzlichen, weltanschaulichen oder fachlichen Erwägungen heraus abgelehnt,wenn es die wissenschaftliche Datenlage als verantwortbar belegen kann und die Luxemburger Gesetzgebung sollte folglich unter diesen Bedingungen einem wissenschaftlich fundierten Gebrauch von diesen Produkten keinen irrationalen Riegel vorschieben. Es geht vielfach ja nicht mehr um das „ob“ dieser Therapien, denn dieses ist nicht nur in der Spastik-Behandlung von Multipler Sklerose eindrucksvoll belegt. Es geht nur um das „wie“ und in welchen Indikationen und unter welchen Bedingungen.
Wir geben als Ärzte aber auch nie vor, alle möglichen Krankheiten „heilen“ zu können. Das ist uns bei den allermeisten hier immer wieder vor kurzem in solcher Weise in Interviews angeführten Krankheiten, bei denen ich mich auch persönlich fachlich angesprochen fühle, wie Depressionen, Aufmerksamkeits-und Hyperaktivitätsstörungen, Tumorkachexie und Tumor-Schmerz, Multiple Sklerose, Epilepsie und viele andere, leider nicht möglich. Der gute Arzt kann viele schwere Krankheiten behandeln, Schmerzen und Symptome lindern und viele Kranke begleiten, „heilen“ kann er davon nur die wenigsten. Wer behauptete, eine einzige Substanz oder Substanzklasse vermöge alle diese Krankheiten nebenwirkungsfrei zu „heilen“, der würde sich fern von medizinischen und deontologischen „good clinical standards“ weg bewegen im Sinne einer Ideologie, letzten Endes einer Form des Scharlatanismus.
Und wiederum glauben nicht wenige Hoffnungsvolle und Medizin-Kritische eher den Aussenseitern und nicht den in der Mehrzahl gut ausgebildeten und in multidisziplinären Kompetenzzentren vernetzten Allgemeinmedizinern und Spezialisten.
Dr. Robert Thill-Heusbourg
25.10.2010
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