Recht zum Sterben-Pflicht zum Sterben: Seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt

Dr Robert Thill-Heusbourg

Vortrag am Ethik-Symposium

St. Josef-Hospital Wiesbaden

  1. November 2015


Zwei Bemerkungen zu Beginn:

  1.  Folie Centre Hospitalier du Nord

Als wir 2003 in Ettelbruck unser Klinikum neu bauten, hatten die Architekten die Idee, die Palliativstation nicht nur nicht im allgemeinen Bettenflügel, sondern im ruhigeren zentralen Verwaltungsturm unterzubringen, andererseits aber auch nach aussen eine Grenze zu überschreiten, indem sie die Zimmer einfach einen Meter über die Fassade hinauswachsen liessen : zeichenhaft für das Mehr an Engagement, Zeit und Raum, was  gute Medizin und Palliativmedizin von uns einfordern.

  1. Folie Wappen Spaniens: Plus ultra

Im Wappen Karls V. symbolisieren die Säulen des Herakles noch die Grenzen der alten Welt, das “Non plus ultra”, das “Hier geht es nicht mehr weiter”, konkret bei den Phöniziern die Meerenge von Gibraltar, aber Karl V. hatte diese Säulen dann nach seinem Vorstoss nach Amerika mit einem neuen Spruchband mit seinem nun modifizierten Wahlspruch “plus ultra”, also “darüber hinaus”, “immer weiter”, versehen. Dieses “Plus ultra” ist nun auch zur Devise unserer globalisierten Welt geworden und dient quasi als Auftrag, alle bestehenden Grenzen, und natürlich besonders  in den Geistes-und Naturwissenschaften, aber auch im religiösen, ethischen und moralischen Geistesraum in Frage zu stellen.

 

Ich habe immer schon gesagt, dass die Vorbereitung zum Euthanasie-Denken  schon beim öffentlichen Transport beginnt. Wenn wir es nicht schaffen, den schwächeren Mit-Menschen, welche nicht mehr so gut und so schnell „funktionieren“, das Gefühl zu geben, dass sie ge-und beschützt (siehe „Pallium“) werden, dann brauchen wir uns auch nicht zu wundern, wenn sie früh- und vorzeitig bereit sind, Schluss zu machen und ihrem Leben ein Ende zu bereiten (bereiten zu lassen), sobald sie auf die Hilfe und Unterstützung anderer Menschen angewiesen sind.

 

Diese palliative Kultur beginnt schon bei der Höhe der Bürgersteige und bei der Länge der „Grünphasen“ bei unseren Fussgänger-Übergängen. Erstere wurden nämlich an vielen Stellen auf 3 cm erniedrigt, aber ohne dabei zu bedenken, dass ältere und behinderte Menschen mit ihrem Gehgestell oder Rollstuhl dort oft an diesem Hindernis scheitern, da sie nicht mehr die Kraft  zum Hochheben haben. Ich bin im Jahr  2008 nach der ersten Abstimmung über das Euthanasie-Gesetz in Luxemburg-Stadt  mit meiner damals 82-jährigen  Mutter ein letztes Mal durch das Viertel spazieren gegangen, in dem sie ununterbrochen (bis auf die zwei Jahre der Lagerhaft von 1943 bis 1945) von der Geburt bis zum Tod  gelebt hatte. Sie hatte es zwei Tage vorher  noch einmal allein versucht, von ihrem Altersheim St Jean bis zu ihrer  500 Meter entfernten Buchhandlung  zu gehen und dann stand sie auf einmal in der Avenue de la Liberté mitten auf der Fahrbahn, die Grünphase war natürlich für Fussgänger schon beendet und sie schaffte es auch einfach nicht, ihr Gehgestell über dieses 3 cm hohe  gedankenlos angebrachte und nutzlose Hindernis hinwegzuheben. Gottseidank half ihr ein Fremder, auf den Gehsteig hinaufzukommen. Anschliessend  traute sie sich nicht mehr auf die Strasse und sie fühlte sich überflüssig und für die Mitmenschen zur Last und Belastung geworden. Sie konnte aus diesem Grund in der Stadt auch nicht mehr mit dem Bus fahren, da ihr sehr oft freiwillig kein Sitzplatz angeboten wurde  und der Bus meistens so schnell anfuhr, dass sie schon zu Boden gestürzt war, bevor sie überhaupt einen Sitzplatz erreichen konnte. Gleiches galt für Fahrten mit dem Zug, wo meistens kein Schaffner mehr da war, um zu fragen , ob einer der Passagiere Hilfe beim Ein-und Aussteigen brauchte. So stellte sie zuletzt auch ihre regelmässigen Besuche bei uns ein.

 

Madame Marie de Hennezel, Berichterstatterin für die französische Regierung zur Bestandsaufnahme der Palliativmedizin in Frankreich („La France palliative“), schreibt  2005, dass der Mensch oft am Ende seines Lebens sein Selbstbild („image de soi“) verliert und dass dieser Verlust nur von den anderen Menschen korrigiert werden kann. Dieser Auftrag ist jedem von uns in der Begegnung mit kranken und sterbenden Menschen gegeben.

 

Jacques Lacan, der grosse französische Psycho-Analytiker schreibt in einem allgemeineren Zusammenhang : „c’est le regard de l’autre qui me constitue“.

 

Oder:

 

« Le moi, devant autrui, est infiniment responsable.  »

(Emmanuel Levinas)

 

 

 

 

 

In den Niederlanden begann in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts die Diskussion darüber, welche Werte in der Diskussion um ein würdiges Sterben im Vordergrund stehen sollten und federführend war die damalige Vorsitzende der niederländischen Sterbehilfevereinigung, Helene Dupuis, eine evangelische Theologin und Medizin-Ethikerin. Die Idee der Selbstbestimmung stand ganz im Vordergrund und wurde aber dann zunehmend vom Konzept des Lebenswerts und der fremdbeurteilten  und fremdbestimmten Würde des Lebens abgelöst. Hier stand dann das Konzept der Würde als Gestaltungsauftrag im Vordergrund und das Konzept der (unverlierbaren) Würde als Wesensmerkmal, welche weder zu-noch abgesprochen werden konnte, trat in den Hintergrund, oft in Zusammenhang mit der Bemerkung, dass man doch Mitleid haben sollte. Helen Dupuis verstieg sich sogar zur Aussage, dass der Begriff der Würde nur dann greife, wenn der Mensch sich ihrer noch bewusst sein könnte und dass der Begriff der –oft von katholischer Seite eingeforderten – “Heiligkeit des Lebens” hinderlich sei, weil er ja nur am Nachdenken hindere.

 

Die Überbleibsel der konfessionellen Unterschiede sind durchaus auch bei unserem heutigen Thema noch spürbar in Europa. Der Leistungsgedanke als Legitimation und der  hohe Stellenwert des Individuums im Protestantismus gegenüber den zentralisierten und weniger dem Leistungsgedanken verschriebenen starren Hierarchien des Katholizismus, Gewissensentscheidung im Einzelfall versus römisch vorgegebene Norm, der Vormarsch der Euthanasie ausschliesslich in den wirtschaftlich reichen protestantisch geprägten Regionen Nordeuropas gegenüber der  noch harmloseren Situation in den wirtschaftlich schwachen katholisch geprägten Ländern, wie es in Belgien offensichtlich ist.

 

 

Diese Idee der Euthanasie und der Würde breitete sich dann von den Niederlanden  auf das ebenfalls protestantisch geprägte Flandern aus und führte dort  2002 zum belgischen Euthanasiegesetz, welches dem niederländischen sehr ähnlich ist mit der Ausnahme, dass dort der assistierte Suizid nur in Anwesenheit des Arztes vollzogen werden darf, eine umgekehrte Garantenpflicht sozusagen.

 

Das belgische Euthanasie-Gesetz gilt natürlich auch  in Wallonien, dem  katholischen Südteil Belgiens, doch werden hier nur ca 20 % der Euthanasie-Fälle durchgeführt, der Grossteil findet somit im protestantisch geprägten Flandern statt.

 

Im katholisch geprägten, aber weitgehend säkularisierten Grossherzogtum Luxemburg wurde das Euthanasiegesetz erst 2008 gestimmt und wir verdanken es  leider dem ehemaligen christlich-sozialen  Luxemburger  Premier-Minister Jean-Claude Juncker, dass dieses nicht im Koalitionsvertrag der schwarz-roten  Koalitionsregierung vorgesehene Gesetz dank seiner Duldung und Förderung einer alternativen Mehrheit im Parlament gestimmt werden konnte, wobei  aber nur eine der 24 christlich-sozialen Abgeordneten dafür stimmte. Juncker sagte damals, dass die christlich-soziale Partei als Volkspartei eben da stehen müsse, wo auch das Volk stehe und er benutzte in dieser Zeit oft das Nebelwort vom “ethischen Frieden” in unserem Land.

 

 

Der französische Philosoph Marcel Gauchet  schreibt in seinem Buch von der Entzauberung der Welt (le monde désenchanté) , dass das Christentum eigentlich die Religion des Austritts aus der Religion sei, die Ursache und den Keim der Emanzipation sozusagen als Ausstiegspforte aus dem Religiösen schon system-immanent eingebaut habe, indem es im Christentum zu einem Paradigmenwechsel vom Begriff der Heteronomie zur Autonomie kam und so erst den modernen Autonomie-und Freiheitsbegriff möglich machte. Es ist eine sehr interessante  Idee als Hintergrund zum Thema, warum Euthanasie gerade in den christlichen Kulturen, welche die Aufklärung mitgemacht haben (katholisch, evangelisch minus Orthodoxie), entstand und warum ausgerechnet in den christlich-protestantischen Gegenden des nördlichen Europa die Euthanasie auf so fruchtbaren Boden fiel.

 

 

Im Argumentarium Nr 1 von 2015 des Instituts für öffentliche Theologie und Ethik der Diakonie steht diese Zusammenfassung zu den Unterschieden zwischen der römisch-katholischen und den evangelischen Kirchen:

 

“Die römisch-katholische Kirche fällt ein eindeutiges Urteil und unterscheidet klar zwischen erlaubter passiver bzw. indirekter Sterbehilfe und nicht erlaubter aktiver Sterbehilfe. Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Suizid gelten als so genannte „in sich schlechte Handlungen“. Es kann weder Ausnahmen geben, noch sind sie offen für Verfahren der Güterabwägung.

 

Die Evangelischen Kirchen hingegen betonen den Konflikt. Sie betrachten Entscheidungen am Lebensende als Dilemmata und als moralische Aus- nahmesituationen. Das heißt: Es lässt sich nicht eindeutig sagen, dass eine bestimmte Handlung moralisch gut oder richtig bzw. moralisch schlecht oder falsch ist. Immer muss abgewogen werden, sprechen auch gute Gründe gegen eine Entscheidung, müssen Kompromisse getroffen werden. Es geht weniger darum, dass diese Kompromisse moralisch einwandfrei sind, als darum, der konkreten Situation möglichst gerecht zu werden und Verantwortung zu übernehmen – unter Umständen auch um den Preis, Schuld auf sich zu laden.”

 

 

 

In einem kürzlich in der österreichischen katholischen Wochenzeitschrift  “Die Furche” veröffentlichten Interview wurde Dietmar Mieth gefragt, wie sich in einer säkularen Gesellschaft bioethische Positionen, die letztlich theologisch begründet sind, vermitteln liessen.

 

Mieth antwortete und ich zitiere bewusst die ganze Antwort:” Zunächst würde ich sagen, dass die Säkularisierungsthese sehr differenziert betrachtet werden muss. Auch der ungebrochene Fortschrittsglaube der Optimierer ist eine Religion. Man sieht, dass Religion nicht einfach verschwindet, sondern sich höchstens säkular umformt. Ich setze also Religion gegen Religion. Der zweite Punkt wäre etwas, das ich kritische Theorie nennen würde. Die liberale Sicht sagt, die Menschen können und sollen selbst bestimmen. Da gibt es einmal den Einwand, dass es nicht nur um Selbstbestimmung geht, sondern auch um Fremdbestimmung – nämlich der folgenden Generationen, z.B. in der Fortpflanzungsmedizin. Und dann ist es so, dass in der derzeitigen wirtschaftspolitischen Landschaft oft Probleme in die Selbstbestimmung verschoben werden, die eigentlich solidarisch gelöst werden sollten. Beispielsweise wird gesagt, jeder Mensch kann bestimmen, wann und wie er stirbt. Aber das ist die Kehrseite dessen, dass wir ein Dezit in der Betreuungs- und Pflege- Situation haben. Wir bringen die Menschen objektiv in Situationen, in denen wir ihnen die Selbstbestimmung der Vorverlegung ihres Endes zumuten. Es geht also um die Verschiebung eines sozialen Problems in die persönliche Unerträglichkeit. Deswegen spreche ich auch von den „Grenzen der Selbstbestimmung“.

 

 

Viele Botschaften gehen bewusst oder unbewusst über die Sprache  und die Grenzen unserer Sprache bestimmen auch hier die Grenzen unserer Welt. Als im Juni dieses Jahres nach jahrelangem  Rechtsstreit der EGMR die Rechtmässigkeit des Abbruchs der Nahrungs-und Flüssigkeitszufuhr beim Wach-Koma-Patienten Vincent Lambert mit einer 12:5 Entscheidung bestätigte und das Ärzteteam im Uniklinikum Reims daraufhin doch entschied, dieses Urteil nicht sofort umzusetzen sondern zuerst einen Kontroll-Betreuer einzusetzen, erschien diese Meldung in der grössten, dem Erzbistum Luxemburg gehörenden  Tageszeitung , dem “Luxemburger Wort”, mit dem Titel “Vincent Lambert reste “en vie””, also Vincent Lambert bleibt am Leben, aber der Redakteur hatte das Wort  “Leben “  unter Anführungszeichen gesetzt, was einem abwertenden  Urteil entspricht, ganz im Ductus der öffentlichen und veröffentlichten Meinung, dass dieses doch kein Leben mehr sei, und wenn, dann  der menschlichen Würde wahrscheinlich widersprechend.

 

Es ist deswegen auch nicht weiter erstaunlich, dass das einheitlich und gemeinsam abweichende Votum von 5 Richtern des EGMR aus Ost-bzw Südeuropa stammt, das heisst aus dem muslimisch geprägten Aserbaidjan, aus den orthodox geprägten Georgien und Moldawien und aus den katholisch geprägten Malta und Slowakei. Die grosse Kammer des EGMR fällte ihr Urteil im Fall Lambert gegen Frankreich mit 12 gegen 5 Stimmen unter dem Vorsitz des Luxemburger Richters Dean Spielmann.

 

Dieses Urteil des EGMR hat grosse Bedeutung für die Schlussfassung des neuen, 2015 in erster Lesung angenommenen Sterbehilfe Gesetzes in Frankreich, welches unter dem Vorwand, das 2005 gestimmte Leonetti-Gesetz über die damals so genannte passive Sterbehilfe zu ergänzen, ein verstecktes Euthanasie –Gesetz einführt (“une euthanasie qui ne dit pas son nom”). Mit dem Urteil des EGMR werden Wachkoma-Patienten wie Vincent Lambert nicht mehr als Schwerbehinderte, sondern  als potentiell Sterbende klassifiziert und da die künstliche Zufuhr von Ernährung und Flüssigkeit im neuen Gesetz nicht mehr zu der jedem Menschen zustehenden Basispflege, sondern zu medizinischer Therapie gezählt wird, kann diese  dann auch –wie bei vielen anderen chronischen Krankheiten- bei diesen Wachkoma-Patienten rechtens abgesetzt werden, wobei gleichzeitig eine endgültige terminale Sedierung eingeleitet werden muss, welche im Gegensatz zur palliativen Sedierung weder reversibel noch verhältnissmässig ist. Dass der bekannteste Palliativ-Mediziner Frankreichs, der Kardiologe Senator Jean Leonetti, gemeinsam mit seinem sozialistischen Partner Alain Claeys im Auftrag von Präsident Hollande diesen Gesetzesentwurf eingebracht hat, wundert sehr viele Menschen nicht nur in Frankreich, ist aber wahrscheinlich im Sinne des auch schon von Jean-Claude Juncker gewünschten ethischen Friedens im Land zu verstehen: es ist ein schlechtes Gesetz, das ein noch schlechteres verhindern sollte.

 

 

 

Die erste Euthanasie in Luxemburg nach dem neuen Gesetz von 2009 erfolgte übrigens in einem katholischen Ordenskrankenhaus und  sollte nicht die letzte in diesem Haus bleiben.

 

Ich wurde 2008 nach der Abstimmung in erster Lesung des neuen Euthanasie-Gesetzes gemeinsam mit meinem Namensvetter Bernard Thill, welcher als Pionier der Palliativmedizin in Luxemburg gilt, vom obersten Organ der Luxemburger Ärztekammer als Gründungsmitglieder der Bürger-Initiative gegen Euthanasie ein-bzw vorgeladen , um unsere Sicht der Dinge zu erklären. Hier hörte man unseren Erläuterungen zum ärztlichen-hippokratischen Tötungsverbot kurz  zu und verabschiedete uns dann mit den Worten, dass die Zeiten sich eben geändert hätten und dass die Ärzteschaft mit den Veränderungen in der gesellschaftlichen Normenbildung eben Schritt halten müsse. Nach der Verabschiedung des Gesetzes in zweiter Lesung 2009 wurde dann das Tötungsverbot aus dem Deontologie-Codex der Luxemburger Ärzteschaft  gestrichen und der Text wurde dem neuen Gesetz angepasst.

 

Die Tötungsziffern in Luxemburg nach dem Euthanasie-Gesetz bleiben derzeit noch klein, noch kleiner als  im katholischen Wallonien, dem Südteil Belgiens ; von 2009 bis 2004 starben  so insgesamt 34 Patienten (also unter 0,2 % gemessen an allen Todesfällen), die meisten waren über 60 Jahre alte onkologische oder neurologische Patienten. Zum Vergleich: Der Anteil der Euthanasie-Toten gemessen an der Gesamtzahl der Toten beträgt in den Niederlanden mittlerweile zwischen 3 und 4 % und in Belgien um 2 %, Tendenz und Indikationen in beiden Ländern stark steigend.

 

Die sogenannte Kontroll-Kommission zum Euthanasie- und Suizidhilfe-Gesetz in Luxemburg statuiert so wie ihre Schwester-Kommissionen in den Niederlanden und in Belgien ausschliesslich ex post, also nach dem Ableben der Patienten. Eine ex ante-Regelung war von der alternativen Parlamentsmehrheit als zu kompliziert und  das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten  störend abgelehnt worden.

 

Diese sogenannte Kontroll-Kommission hat mittlerweile ihren dritten Bericht veröffentlicht und gibt an, dass sie keinen einzigen Fall zu beanstanden hatte. Sie zählt aber unter den Kritikpunkten und Empfehlungen unter anderen auf, dass die Regierung zu wenig unternehme, um das Gesetz mit seinen Möglichkeiten bekannt zu machen und schlägt diesbezüglich auch Multi-Media-Kampagnen vor, sie schlägt die Schaffung einer Euthanasie-Dienststelle vor, wo Patienten im Sinne des Gesetzes besser beraten und orientiert werden könnten, sie beanstandet, dass die Ärzte öfters zu lange abwarteten, bevor sie Patienten über ihre Bedenken gegenüber der Euthanasie-Lösung aufklären, sodass viele Patienten im Endstadium einer Krankheit leider nicht mehr die Möglichkeit hätten, sich an einen anderen Arzt überweisen zu lassen und last but not least fordert sie die endlich fällige Anerkennung der Euthanasie als natürliche Todesursache.

 

 

Die Behauptung, dass die Gegnerschaft zur Euthanasie ja nur aus religiösen Gründen erfolge, welche somit für alle nicht religiös gebundenen Menschen ohne Belang seien, ist eine der vielen Umdeutungsversuche der Pro-Euthanasie-Bewegung, welche wir klar zurückweisen können, wie es ja aus allem bisher Gesagten schon hervorgeht. Wir müssen uns andererseits sehr bemühen, einen intelligenten und respektvollen Umgang mit unseren politischen Gegnern zu fordern und zu fördern und dies setzt zuerst einmal voraus, dass beide Seiten grundsätzlich darin übereinstimmen, dass es kluge und intelligente Gläubige und kluge und intelligente Atheisten gibt. Diese Diskussion wird in Luxemburg aber derzeit von einem wenig intelligenten und wenig gebildeten atheistischen Fundamentalismus bestimmt, welcher geistig im „Kulturkampf“ des vorletzten Jahrhunderts stehen geblieben ist, wobei die meisten christlichen Kirchen sich in den letzten 150 Jahren sehr positiv und welt-und geist-offen weiterentwickelt haben. Beide Weltanschauungen, ob religiös oder atheistisch, haben eine gemeinsame Verantwortung für die friedliche Entwicklung unsererer Welt, und der geistlose Hass gegen alles Religiöse, dem wir täglich in den meisten unserer Medien begegnen, ist sicher keine Werbung für den Atheismus „made in Luxembourg“.

 

Kardinal Carlo Maria Martini beschreibt in seinem Buch  “Jerusalemer Nachtgespräche” (2008) auch , wie er in Mailand  die Cattedra, den „Lehrstuhl der Ungläubigen“ , eingerichtet hatte, um von ihnen zu hören, was sie zur Rettung der Welt beitragen und den Menschen zu sagen haben. „Ich möchte denkende Menschen. Das ist das Wichtigste. Dann kommt erst die Frage, ob sie Gläubige sind oder Nichtgläubige. Wer nachdenkt, wird weitergeführt. Darauf vertraue ich. „

 

 

 

 

 

Die bekanntesten Euthanasie-Ärzte, Theoretiker und Apologeten der Euthanasie in Belgien, François Damas und Wim Distelmans sprechen von der “mort choisie” (dem aus-erwählten Tod ) im Gegensatz zu der “mort donnée” (dem Getötet- werden) und der “mort acceptée” (dem angenommenen Tod) , wie wir es in der Palliativbewegung zu unterscheiden gewohnt sind. Sie schreiben , dass man den Patienten nicht um seinen  eigenen Tod berauben dürfe,  dass man den Tod vollziehen und nicht erleiden solle, dass die Tötung im Rahmen der Euthanasiegesetze die höchste Form der Bindung zwischen Patienten, Familie und Arzt nicht nur voraussetze , sondern (fast in der Sprache der Sakramente) auch bewirke, dass die Euthanasie im Rahmen einer Klinik-oder Altersheim-Abteilung öfters wie ein Gründungsakt erlebt werden dürfe, welcher den Zusammenhalt zwischen allen Team-Mitgliedern bestärke, da sie sich gemeinschaftlich eines grossen Aufgabe angenommen hätten…

 

Ich erspare ihnen nun bewusst weitere Zitate aus diesen Federn.

 

 

Der evangelische Theologe Theo Boer, der lange Zeit Mitglied in den sogenannten Euthanasie-Kontroll-Kommissionen in den Niederlanden tätig war, zieht ein vernichtendes Fazit dieser Gesetzgebung und berichtete vor kurzem, dass neben den rasch steigenden absoluten Zahlen die Indikationsliste stetig grösser werde und dass zunehmend eine von “Mitleid” bestimmte Fremdbeurteilung der Lebensqualität der Betroffenen erfolge. Die sogenannten Kontroll-Kommissionen überprüfen ja auch nicht die Richtigkeit der Angaben der Ärzte sondern nur den Umstand, ob die ausführenden Ärzte angeben, sich an die Bedingungen des Gesetzes gehalten zu haben.

 

Und zum sogenannten Altersfreitod plädierte der königlich-niederländische Ärzteverband KNMG für einen Mittelweg: Jeder, der alt und lebensmüde sei, habe Gebrechen, die man mit etwas gutem Willen als « aussichtsloses und unerträgliches Leiden » betrachten könne. So dürfe der Bitte um einen assistierten Suizid auch ohne eine Gesetzesänderung entsprochen werden.

Suizidbeihilfe heisst auch  immer, dass es den Komplizen braucht  und dass Suizidgedanken auch ansteckend sind. Nicht umsonst gilt es deswegen als ungeschriebene Regel im Deontologie-Kodex der Journalisten, so wenig wie möglich über Suizide zu berichten, weil der Nachahmungseffekt – und nicht nur bei den New Yorker U-Bahn- Suiziden so gross ist.

 

 

Dietmar Mieth schreibt dazu in seinem Buch “Grenzenlose Selbstbestimmung”  “Bei der straffreien Beihilfe tötet sich der Betroffene immer noch selbst. Ich lege nicht Hand an ihn. Indem ich diese Schwelle überschreite, trete ich an die Seite derer, die eine soziale Situation um Sterben und Tod nicht mehr ändern, sondern zum Sterbegrund machen wollen. Darauf wird die Frage nach dem Ersatz des erklärten Willens durch den mutmasslichen Willen folgen.(…)

 

“Ich werde ihm ein Angebot machen, das er nicht ablehnen kann, sagt der “Pate” in der Mafia.

 

 

Mit den Gesetzen zu Euthanasie und Suizid-Beihilfe haben wir eine Tür geöffnet, die niemand mehr schliessen kann. In einem offenen Brief hoher jüdischer, christlicher und muslimischer Repräsentanten in Belgien hiess es: “Dem Leben ein Ende bereiten ist eine Tat, die nicht nur ein Individuum tötet, sondern das soziale Gewebe der Gesellschaft. “

 

 

Im Dezember 2008 gab Grossherzog Henri von Luxemburg bekannt, dass er sich nach reiflicher Überlegung entschlossen habe, das Euthanasie-Gesetz nicht zu unterschreiben, da  seine Unterschrift nach der Verfassung sowohl Billigung als auch Verkündung bedeute, und diese Billigung könne er nicht mit seinem Gewissen und mit seinem Glauben  vereinbaren. Dieser Schritt, über den Premier-Minister Juncker schon lange vorher informiert war führte zu einer schweren Verfassungskrise und nicht wenige warfen dem (katholischen ) Grossherzog eine Missachtung der parlamentarischen Demokratie vor, nannten seine Haltung “reaktionär und imperialistisch” und forderten seinen Rücktritt und die Abschaffung der Monarchie.  Es entstand daraufhin eine schwere Verfassungs-und Monarchie-Krise in Luxemburg, welche in der bald einstimmig im Parlament beschlossenen Verfassungsänderung, nachdem der Grossherzog Gesetze mit seiner Unterschrift nicht mehr zu billigen, sondern nur mehr zu verkünden hatte, ihr vorläufiges friedliches Ende fand.

 

Diese Haltung erinnerte an die Entscheidung seines katholischen Onkels Baudouin, der als König der Belgier 1990 ebenfalls aus Gewissens-und Glaubensgründen  sich weigerte, ein Gesetz zur Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes zu unterzeichnen. Die belgische Regierung erklärte Baudouin deshalb auf dessen eigenen Wunsch hin am 4. April 1990 für regierungsunfähig. Für diesen Fall sah die belgische Verfassung vor, dass die gesamte Regierung die Funktion des Staatsoberhauptes übernimmt. Nachdem alle Regierungsmitglieder das Gesetz unterzeichnet hatten, erklärte die Regierung am nächsten Tag  Baudouin wieder für regierungsfähig.

 

In den 2006 erschienenen  Memoiren des früheren (flämischen, aber katholisch geprägten) Ministerpräsidenten Belgiens, Wilfied Martens, berichtet dieser, dass nach seiner Einschätzung der  frühere König der Belgier Baudouin das Sterbehilfegesetz des Landes nicht unterzeichnet hätte. Er sei sich „hundertprozentig sicher“, dass Baudouin das Gesetz abgelehnt hätte, wäre er 2002 noch am Leben gewesen und auch die niederländische Königin Beatrix sei in den 90er Jahren besorgt über die mögliche Einführung eines Sterbehilfegesetzes in ihrem Land gewesen. Beide Staatsoberhäupter hätten sich darüber ausgetauscht.

 

Am Abend des 2. Dezember 2009 waren alle Politiker um unseren katholischen Premier-Minister Jean-Claude Juncker bemüht, zu zeigen, dass die Dinge bald wieder ihren (leider) gewohnten Lauf gehen werden und nur der Grossherzog hat  damals beispielhaft für unser Land und die ganze Welt gezeigt, dass er die Grundaufgabe der jungen Generation, unbequem , Sand, und nicht Öl im Getriebe der Welt zu sein, wie es im Gedicht „Träume“ von Günther Eich heisst, besser verstanden hat, als diese Generation selbst.

 

In Deutschland scheint  sich -zumindest auf der Ebene der Bundespolitik-  vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrungen mit der Euthanasie-Politik –und Praxis im Nationalsozialismus noch eine gewisse Immunität gegen die derzeitige Euthanasie-Idee erhalten zu haben; auf der Ebene des Volkes und der Ärzteschaft  scheint mir der Impferfolg viel geringer zu sein und der weltanschauliche  Einfluss seiner Nachbarstaaten Frankreich und der Benelux-Länder wächst kontinuierlich, wie wir es in den Medien und auf Kongressen und in Fach-Zeitschriften beobachten können.

 

 

1980, ich hatte gerade mein Medizinstudium in Graz begonnen,  nahm ich als Zuhörer erstmalig am Ingeborg -Bachmann-Preis in Klagenfurt teil und hörte  im Rahmen dieses Lesemarathons zum ersten Mal den Text, mit dem der vor mir sitzende junge deutsche Schriftsteller  Sten Nadolny den Preis gewinnen sollte: “Kopenhagen 1801”, einen Auszug aus seinem später berühmten Entwicklungsroman “Die Entdeckung der Langsamkeit”, in dem er die Biographie des englischen Seefahrers und Nordpolforschers John Frankling so umschreibt, dass dieser Lebenslauf zu einer subtilen Studie über die Zeit wird und die Langsamkeit zu der Kunst, dem Rhythmus des Lebens Sinn zu verleihen bzw den Sinn des Lebens anders zu erspüren: aus der Perspektive der Langsamkeit verändert sich die Welt.

 

Und er lässt John Frankling sagen : ”Ich nehme mir Zeit, bevor ich einen Fehler mache” (SP, 1987, S.199) und, etwas später in einem Gespräch mit seiner kleinen Tochter, welche ihn gefragt hatte, woran man denn erkenne, ob jemand ein Bösewicht sei: “ Ein Bösewicht”, sagte John,” kennt seine richtige Geschwindigkeit nicht. Er ist bei den falschen Gelegenheiten zu langsam und bei den anderen zu schnell, wo  es auch verkehrt ist.”(…) Er tut zu langsam das, was andere von ihm wollen, zum Beispiel gehorchen oder helfen. Aber er versucht viel zu schnell das zu kriegen, was er von anderen will (…) (SP, 1987, S.307)

 

 

In der Diaspora-Situation der christlichen Hochschulseelsorge in Wien zitierte die Journalistin Andrea Roedig im Wiener Standard vor kurzem den Wiener  Studentenseelsorger Helmut Schüller mit dem Satz, dass sein wichtigstes Arbeitsinstrument daraus bestehe, in langsamem Schritt über den Campus zu gehen.

 

„Heilsame Unterbrechung“, das ist ja auch nach Johann Baptist Metz eine Kurzdefinition für die Religion.

 

 

Die neue Form einer öffentlichen Theologie, wie wir sie vor kurzem in der Rede von Navid Kermani in der Frankfurter Paulskirche kennen lernen durften, war ein Signal und eine Erinnerung an uns,  die spirituelle Haltung des Betenden wieder einzunehmen.

 

Es geht hier auch um die “Offenheit für das Unerbetene” , um die Ethik der Gabe und des Empfangens, die sich laut Michael Sandel vor allem noch in der Elternschaft halte.

 

Es geht auch um Offenheit gegenüber einem jesuanischen versus einem olympischen Menschenbild.

 

In den Tagen nach den Pariser Attentaten war das Beten plötzlich wieder in aller Munde, sogar west-europäische Politiker scheuten sich nicht, um ein Gebet zu bitten.

 

Auf der anderen Seite versuchte ein Familienangehöriger der Pariser Attentäter einem der Brüder mit den Worten: “zudem sei er nicht religiös, halte keinen Ramadam und bete nicht regelmässig” ein glaubhaftes Alibi zu verschaffen.

 

Ich habe allen meinen sieben Kindern den Zweitnamen Maria gegeben, um sie einerseits zu erinnern an die Umkehr der Werte von stark und schwach, reich und arm im Magnifikat und andererseits daran, dass  die Aufmerksamkeit das Wesen des Gebets und der Gastfreundschaft ist.

 

Würde Jesus heute Zeitung lesen statt zu beten?  In der Furche vom 5.4.2012  erinnerte uns Rudolf Mitlöhner in seinem Leitartikel an diese provokante Frage   der  evangelischen Theologin Dorothee Sölle (1929–2003) vor bald fünfzig Jahren. Gebet sei – wie Zeitung lesen– so etwas wie eine Vergewisserung über den Gesamtzusammenhang, schrieb Sölle. Sie meinte damit wohl, so interpretierte es Mitlöhner, ein Sich-Sammeln und –Öffnen für das Ganze der Wirklichkeit.

 

Ich will mit einem Zitat von Bertolt Brecht schliessen. „Der warme Wind bemüht sich noch um Zusammenhänge, der Katholik“, schreibt er – wohl ironisch – in seinem 1. Psalm. Brecht hatte diese literarische Gebetsform der Israeliten sehr früh für sich wiederentdeckt und hält hierzu schon 1920 in seinem Tagebuch fest: „Ich muss noch einmal Psalmen schreiben. Das Reimen hält zu sehr auf. Man muss nicht alles zur Gitarre singen können“.Die beschriebenen Zusammenhänge zu erkennen und sie zu berücksichtigen ist im übrigen die Aufgabe aller Menschen und nicht nur die der von Brecht hier erwähnten Katholiken.

 

Wir wissen, was jetzt kommt. Nehmen wir uns also ruhig Zeit, bevor wir einen Fehler machen.

 

 

 

 

 

Dr Robert Thill-Heusbourg

Leave a Reply

You can use these HTML tags

<a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>